Von Sahra Barkini – Stuttgart. In Cannstatt versammelten sich am Samstag, 2. Juli, circa 500 AfD-GegnerInnen, um gegen die in Teilen neofaschistische Partei zu demonstrieren. Ursprünglich hatte die AfD an diesem Tag dort ihren Landesparteitag geplant. Er fiel aber aus beziehungsweise wurde verschoben. Das dürfte sich wohl auch auf antifaschistischen Druck und Präsenz im Stadtviertel zurückführen lassen. Die Polizei schikanierte die DemonstrationsteilnehmerInnen von Anfang an. Sie fertigte auch eine Strafanzeige gegen die Anmelderin der Demonstration, weil die Auflagen angeblich nicht rechtzeitig verlesen wurden.
Dies holten die BeamtInnen dann selbst nach, während bereits Reden gehalten wurden. So verstanden die ZuhörerInnen weder die Redebeiträge noch die Durchsagen der Polizei. Die Demonstration wurde bereits nach fünf Metern gestoppt – nach dem Eindruck von Beobachtern aus fadenscheinigen Gründen. Transparente seien zu lang, und es gebe keinen Abstand zwischen den Transparenten. Abstand zu halten war aber gar nicht möglich, solange der Demozug nicht loslaufen konnte.
Als Transparente eingerollt worden waren, entdeckten die BeamtInnen angeblich „Vermummte“. Einige DemoteilnehmerInnen trugen zum Schutz vor der noch immer herrschenden Pandemie FFP2- oder medizinische Masken. Das nahmen die PolizistInnen zum Anlass, sich zu behelmen und den Schlagstock zu benutzen. Sie setzten auch Pfefferspray ein, und es gab eine erste Festnahme. Auch schlugen die BeamtInnen nach einem Journalisten. Dies sei aber, so ein Polizist, Berufsrisiko von JournalistInnen. Auch nach dieser Gewalteskalation konnte der Demonstrationszug nicht starten. Umstehende PassantInnen schüttelnden über das Vorgehen der Polizei die Köpfe und solidarisierten sich mit der Demonstration.
Nach langem Warten in der prallen Sonne entschieden sich die OrganisatorInnen der Demonstration, sie abzubrechen und die Abschlusskundgebung auf dem Bahnhofsvorplatz abzuhalten. Die Polizei kesselte die TeilnehmerInnen ein und sagte durch, dass sie dem Platz nur in kleinen Gruppen und mit eingerollten Fahnen und Transparenten verlassen dürften. Schon vor Beginn der Kundgebung kontrollierte die Polizei DemonstrationsteilnehmerInnen.
AfD-Parteitag verschoben
Die Versammlung hatte entspannt auf dem Bahnhofsvorplatz begonnen. Mit Musik und Redebeiträgen wollten die versammelten AntifaschistInnen feiern, dass die AfD nach langem hin und her ihren Landesparteitag an diesem Wochenende nicht abhielt. RednerInnen des Bündnisses „Stuttgart gegen Rechts“ (SgR) skizzierten die vergangenen drei Wochen nach. Zuerst wurde durch antifaschistische Recherche bekannt, dass die AfD ihren Landesparteitag in der Carl-Benz-Arena abhalten wollte. Daraufhin trat SgR gemeinsam mit vielen UnterstützerInnen mit einem offenen Brief an den Hallenbetreiber heran. Sascha Penna sah aber zunächst keinen Grund, der AfD die Räume nicht zu überlassen. Er betrachte es als „demokratische Pflicht“, da die AfD auch demokratisch gewählt sei.
Wenn jemand die AfD unterstützt, wendet er sich jedoch gegen weite Teile der Gesellschaft, kritisierten die RednerInnen. Nach einer Weile kam Penna zu dem Schluss, dass ihn seine Gastfreundschaft teuer zu stehen kommen könnte. Der Betriebsrat von Daimler Untertürkheim wandte sich ebenfalls mit einem Brief an den Hallenbetreiber, da auch er Nutzer dieser Halle ist. Derweil zeichnete die Polizei ein Horrorszenario: Es würden viele Linksextreme kommen, und das könnte gefährlich werden.
Außerdem war fast zeitgleich ein Konzert der Fantastischen Vier geplant. Penna wollte die AfD nun doch nicht mehr beherbergen (siehe „AfD nach Vertragskündigung obdachlos„) und kündigte den Mietvertrag. Dabei wurde allerdings die Rechnung ohne das Stuttgarter Landgericht gemacht. Es entschied nach einer Klage der „Alternative für Deutschland“, der Mietvertrag habe Bestand. Obwohl sie nun von juristischer Seite grünes Licht hatte, entschied sich die AfD, ihren Parteitag zu verlegen. Er soll nun zwei Wochen später auf der Messe stattfinden.
Stadt öffnet Messe für AfD
Dazu erklärte die Rednerin: „Die Stadt hat sich als Helferin angeboten und hat als Miteigentümerin der Messe den Nazis eine neue Räumlichkeit besorgt, an der sie mit weniger Widerstand rechnen. Die Mehrkosten trägt nicht die AfD, sondern die Carl-Benz-Arena. Das ist alles mehr als skurril, sie kaufen sich also mehr oder weniger vom Protest frei.“ Wieder einmal habe sich die Stadt Stuttgart von ihrer schlechten Seite gezeigt. Sie habe wieder einmal „kein einziges deutliches und wirksames Zeichen des Widerspruchs gegen Rechts“ gezeigt. Schon in der Vergangenheit habe die Stadt ähnlich gehandelt, sagte die Rednerin und erinnerte an bereitgestellte SSB-Sonderbusse für Pegida oder die AfD. Wieder einmal habe die Stadt bewiesen, dass sie „eine sehr schlechte Partnerin im Kampf gegen Rechts“ sei.
Auch eine weitere Rednerin ging auf die Rolle des Hallenbetreibers ein. Er verzichte ohne Not darauf, Haltung gegen Rechts zu zeigen. Auch habe er nicht aus inhaltlichen Gründen den Vertrag mit der AfD gekündigt, sondern nur nach Druck von innen und außen. Er verteidigte seine Entscheidung bis zuletzt mit dem Verweis auf einen vermeintlich notwendigen gesellschaftlichen Diskurs. Doch diese Grundannahme sei falsch, so die Rednerin. Schon lange habe sich die Hoffnung als gefährlicher Irrtum erwiesen, dass man die AfD bändigen könne, indem man sie in Talkshows einlädt – und ebenso die Hoffnung, „besorgte BürgerInnen“ seien weniger besorgt, wenn man ihnen zuhört.
Immer weiter nach rechts
Rechte Kräfte wollen keinen gesellschaftlichen Diskurs, sie wollen ihn abschaffen, so die Rednerin. Für den Umgang mit der AfD müsse gelten: „Bremsen, Blockieren, Bekämpfen.“ Beim Bundesparteitag der AfD in Riesa sei deutlich geworden, dass der vermeintlich aufgelöste „Flügel“ um Björn Höcke, der als Faschist bezeichnet werden darf, den Diskurs bestimmt. Schon seit Gründung der Partei gebe es rechte Hardliner, Nazis und Faschisten, die wissentlich akzeptiert worden seien. Jetzt übernähmen sie die Partei, nachdem Bernd Lucke, Frauke Petry und Jörg Meuthen das immer weiter nach rechts driftende Schiff verlassen haben.
Oft werde diese Entwicklung auf die neuen Bundesländer geschoben. Aber auch der Landesverband Baden-Württemberg spiele eine unrühmliche Rolle. Die Noch-Landesvorsitzende Alice Weidel habe sich von ihrer ursprünglich gemäßigten Rolle längst entfernt und mache mit den rechten Hardlinern gemeinsame Sache. Ihr Stellvertreter Markus Frohnmaier sei eine der Schlüsselfiguren für die Vernetzung mit der rechtsextremen Szene. Auf dem Bundespartei wurde ein Unvereinbarkeitsbeschluss mit der rechten Scheingewerkschaft Zentrum Automobil aufgekündigt. Er sei sowieso das Papier nicht wert gewesen, auf dem er stand – so die Rednerin. Der „Flügel“ um Höcke sei für diesen Beschluss verantwortlich, und der Landesverband Baden-Württemberg habe ihn vorangetrieben.
„Ein gefährliches Sammelbecken“
RednerInnen aus dem Erziehungsdienst gingen auf die ArbeitnehmerInnen-feindliche Haltung der AfD ein. Sie sagten: „Wir stehen heute hier und halten diese Rede, weil sich hier heute eine Partei treffen wollte die nicht nur rassistisch, sexistisch und neoliberal ist, diese Partei ist auch ArbeitnehmerInnen feindlich.“ Für die AfD habe Arbeitskampf keinerlei Priorität. Sie fordere im Gegenteil weitere Einschränkungen. Die AfD stehe auch für Lohnsenkungen, den Wegfall vom Mindesturlaub und der Erhöhung des Rentenalters. Sie fordere mehr Arbeit für weniger Lohn und wolle damit die ArbeiterInnenklasse weiter ausbeuten.
Weder habe die „Alternative für Deutschland“ Interesse an Arbeitsschutz noch am Mindestlohn und auch nicht an finanzieller Unterstützung für GeringverdienerInnen oder Arbeitslose. Die AfD habe keinerlei Antworten für Menschen, die von Armut betroffen, überlastet und unterbezahlt sind. Sie habe auch keine Lösung für Fachkräftemangel. Seit die AfD im Bundestag sitzt, werde von zunehmenden frauenfeindlichen Vorfällen berichtet. Vertreter und Anhänger der Partei würfen mit sexistischen und frauenverachtenden Sprüchen um sich und belästigten und verhöhnten PolitikerInnen.
Zum Abschluss sagten die RednerInnen: „Die AfD ist und bleibt ein gefährliches Sammelbecken aus völkisch nationalistischer, rechtsextremistischer, frauenfeindlicher und religiös fundamentalistischer Ideologie.“
Nach den Redebeiträgen las die Versammlungsleiterin die Auflagen der Stadt vor. Zuvor hatte die Polizei damit gedroht, andernfalls die Lautsprecheranlage zu beschlagnahmen. Unter anderem durften Transparente nicht länger als anderthalb Meter sein. Durchgestrichene Hakenkreuze gälten als verfassungsfeindliches Symbol. Dazu gibt es zwar ein gegenteiliges Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2007 (siehe den Bericht der Berliner Zeitung). Das Urteil scheint aber in Stuttgart ignoriert zu werden.
Bündnis verurteilt Vorgehen der Polizei
Wegen des Vorgehens der Polizei sahen die VeranstalterInnen der Demonstration keine Möglichkeit mehr, wie geplant durch Cannstatt zum Kursaal zu ziehen. Sie hielten die Abschlusskundgebung vor dem Bahnhof ab. Dazu wurden die TeilnehmerInnen von der Polizei eingekesselt. Sie durften den Platz erst nach der Kundgebung allein, zu zweit und mit eingerollten Transparenten und Fahnen verlassen. Beim Weggehen wurde die Polizei erneut aktiv und es gab weitere Festnahmen. Einen Teilnehmer der Demonstration unterzog sie einer Alkoholkontrolle. Als vom nahegelegenen Parkhaus Feuerwerk gezündet wurde, kam nochmals Hektik auf. Auch stürmten die BeamtInnen ohne ersichtlichen Grund in den Bahnhof, als sich AntifaschistInnen zur Abreise zu den Gleisen begaben.
Zwischenzeitlich gibt es vom Bündnis Stuttgart gegen Rechts ein Statement, welches hier nachgelesen werden kann.
Ganz auf eine Demonstration verzichten wollten die AntifaschistInnen dann doch nicht. So zog am Abend noch eine Spontandemonstration vom Rotebühlplatz in Richtung Heslach, wie „sozialen Medien“ zu entnehmen war. In der Pressemitteilung des Bündnisses verurteilte deren Sprecher Dominik Schmeiser das Vorgehen der Polizei und kritisierte, dass sich die Demonstration über Stunden kaum einen Meter bewegen konnte. „Immens viele Einsatzkräfte standen um uns herum, behelmt und aggressiv“, sagte Schmeiser. Sie hätten die Versammlung mehrfach angegriffen. Es habe einige Verletzte gegeben. „Wir sind uns sicher, dass hinter der Planung des Polizeieinsatzes auch die Idee steht, unser breites Bündnis anzugreifen“, so Schmeiser.
„Offenbar ein Exempel statuiert“
Die Demosanitäter Sanitätsgruppe Süd-West berichten in ihrer Pressemitteilung von 17 Verletzten. Auch der Journalist Joe Bauer kritisierte auf seiner Facebookseite das Verhalten der Stuttgarter Polizei: „(..) Ich gehöre sicher nicht zu denen, die an einer Bullen-Aversion leiden. Aber dieser Auftritt mit seiner Eskalationstaktik war ein deutlicher Angriff auf die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit. Vergleichsweise hätte zuletzt so gut wie jeder ‚Querdenken‘-Aufmarsch, den ich gesehen habe, sofort gestoppt und aufgelöst werden müssen. Offensichtlich wollte man vor dem jetzt in Leinfelden-Echterdingen geplanten AfD-Parteitag ein Exempel statuieren.“
Am Montag, 4. Juli, wurde bekannt, dass die Gemeinderatsfraktion „die FrAktion“ eine Aufarbeitung der Vorgänge im Gemeinderat gefordert hat. Sie hat beantragt, dass der Bürgermeister für Sicherheit und Ordnung und die Polizei im Verwaltungsausschuss des Gemeinderats am 6. Juli 2022 über den Polizeieinsatz berichten.
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